Dao Wissen - Lehre & Überlieferung

Philosophie des Daoismus

Himmelsdrache - Philosophie

Intuition und Intellekt, Geist und Natur, Immaterialität und Erscheinung, Imagination und Logik, Sprachzeichen und Bildzeichen, Asketismus und Sexualität usw.: Solche Brüche, über die die europäischen Romantiker einst in Verzweiflung verfielen, die tragisch empfundene Unvereinbarkeit von Mensch und Natur, all dies scheint sich für den Daoisten durch Arbeit an sich selbst in Harmonie und Einklang aufzulösen.

Überraschend ist auch, wie zwanglos sich offenbar die Lehre des Dao als praktische Philosophie in die alltäglichen Lebensumstände im modernen China integrieren lässt. Diese Bruchlosigkeit in theoretischer und praktischer Hinsicht, welche der Daoismus für sich in Anspruch nimmt und die er in seiner Methode vermitteln will, stößt in der skeptischen Philosophie des Westens verständlicher Weise auf Misstrauen und Ignoranz.

Darüber hinaus überschwemmen die Doktrinen des Dao vielfältig aufgesplittert und nicht selten durch unseriöse Vermittler entstellt seit Jahrzehnten den esoterischen Markt des Westens. Die klassischen literarischen Quellen wurden auf so vieldeutige, oft in sich widersprüchliche Weise übersetzt, dass die zweifelnde Frage nach der 'Philosophiefähigkeit' des Daoismus im Westen nie verstummte. Es kommt erschwerend hinzu, dass in den philosophisch seriösen westlichen Darstellungen die praktische Seite, d.h. Dao-Medizin und Nei Gong, welche den eigentlichen Kern der Lehre ausmachen, kaum ernsthaft zur Kenntnis genommen werden.  

Religiöser und philosophischer Daoismus

Einige westliche Darstellungen der chinesischen Philosophie unterteilen den Daoismus in eine „religiöse“ und eine „philosophische“ Ausrichtung. Dieses Herantragen westlicher Vorbegriffe wird aus zwei verschiedenen Motiven heraus begründet: Entweder man glaubt von der Sache her bzw. realhistorisch an die getrennte Linienführung oder aber man benutzt die Unterscheidung religiöser Merkmale von philosophischen Merkmalen nur als vorläufiges sachtheoretisches Konstrukt, sozusagen um erste Grenzziehungen im fremden Feld vorzunehmen1. Beide Herangehensweisen eint, dass sie kulturunabhängig von der grundsätzlichen Unterscheidbarkeit religiöser und philosophischer Faktoren ausgehen. Das ist aber zumindest fraglich, denkt man daran, dass gerade die Konturen der europäischen Philosophiegeschichte über Jahrhunderte hinweg fast mit dem Hintergrund des christlichen Denkens und der Dogmengeschichte verschmolzen.  

Ebenso wie der den Europäern vertraute Begriff der Religion, für den sich ohnehin in nichtromanischen Sprachen kaum ein passendes Äquivalent finden lässt, umfassen auch philosophische Beiträge unter europäischen Vorzeichen das daoistische Denken bisher nur unzureichend. Oder aber die kritische Beurteilung vor westlichem Horizont kommt zu einseitig negativen Ergebnissen, wie etwa G.W.F. Hegel, dem die orientalische Philosophie generell leer, pedantisch und geistlos erschienen war2 oder in jüngerer Zeit Hubert Schleichert/ Heiner Roetz, die die Lehre des Dao auf eine „Kombination von Gesundheitstechniken und Geheimlehren, von Müsli und Mystik“3 reduziert wissen wollen.

Eines der Haupthindernisse für besseres interkulturelles Verständnis auf philosophischem Gebiet ist zweifellos die postulierte Trennung von Erfahrungswissenschaften und Metaphysik, welche sich im neuzeitlichen Europa über Jahrhunderte entwickelte und bis heute verfestigt hat. Die radikale Abtrennung von Natur- und Geisteswissenschaften, wie wir sie aus unserem Bildungssystem seit Jahrzehnten kennen und die heute mit unserer Unterstützung auch immer vehementer von unseren Kindern eingefordert wird, ist ein Ausläufer dieses wissenschaftstheoretischen Reinheitsgebots. Natürlich geschah das alles nicht ohne Grund und nicht ohne Erfolg. Verlief bis zum 16. Jahrhundert der naturwissenschaftliche Transfer (in Pharmakologie, Alchemie, Medizin, Physik) eindeutig eher von Osten nach Westen, so entwickelten sich die europäischen Wissenschaften und Technologien in der Folge relativ autark zu Höchstleistungen und brachten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts europäische Nationen an die Schwelle zur Weltherrschaft4.

Die gestiegene Autonomie des sich seines eigenen Verstandes freier bedienenden Subjekts führte nicht nur zu epochemachenden naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern brachte auch anderweitig tiefgreifenden kulturellen Wandel mit sich; auf Ebene der Machtverteilung im Staat, der Institutionen, des Rechtssystems, der sozialen Schichtung usw.. Aus dieser Gesamtentwicklung gingen schließlich auch die Zweige des modernen Wissenschaftsbetriebs hervor. Und das Subjekt wurde in Europa zum Kernthema der philosophischen Begriffsbildung. Nun ist es aber gerade die Autonomie des Subjekts, welche wir aus Gewohnheit den Chinesen gerne absprechen, oftmals ohne genauere Überprüfung unserer These im Umgang mit Chinesen oder im interkulturellen philosophischen Dialog. Argumentativer Hintergrund solcher Behauptungen ist zum Einen der aus dem Kirchenrecht stammende Begriff der Person als Rechtsträger, für den sich in China kein wirklich passendes Gegenstück finden läßt und zum Anderen das Fehlen einer geistesgeschichtlichen Tradition der Aufklärung nach europäischem Muster.

Die 'aufgeklärte' Erwartungshaltung auch gegenüber von außen, d.h. zunächst kontextfremd herangetragenen Begriffen baut auf klare, nach logischen Kategorien eindeutig ausformulierte Sätze; erfahrungswissenschaftliche Aussagen müssen von sich aus falsifizierbar, metaphysische Aussagen kritisierbar sein. Der historisch gewachsene Anspruch, welcher mittlerweile auch für moderne, sozusagen europäisierte Chinesen gelten dürfte, trifft in der daoistischen Theorie und Praxis auf Verbindungen von Elementen, welche hierzulande innerhalb der vertrauten Ordnung der Dinge nicht widerspruchsfrei miteinander kombiniert werden können. Es ist dennoch sinnvoll, sich über die schulübergreifenden Themen und Eigenheiten des chinesischen Denkens zunächst zu verständigen, ohne dabei vorschnell alle uns religiös-irrational erscheinenden Bestandteile aus den philosophisch-rationalen Begründungszusammenhängen abfiltern zu wollen. Zentrale Begriffe des klassischen Daoismus wurden in vielen philosophischen Schulen diskutiert und fanden auch Aufnahme in die Religionen und Kulte Chinas5. Von dort aus strahlten sie wieder zurück in die daoistische Literatur und Überlieferung. Dazu gehören z.B. die Ausdrücke „Dao“ und „De“, die duale Struktur von „Yin und Yang“ als Prinzip der Naturgestalten (Taiji), der zentrale Begriff der „Leere“ bzw. des „Nichts“, die Rede vom Menschen (Ren), der Erde (Di) und dem Himmel (Tian) etc.. Diese Begriffe müssen zunächst innerhalb des Gesamtkontextes der chinesischen Geistesgeschichte und Theorienbildung Kontur gewinnen, bevor man ihren Gehalt wirklich einschätzen kann. Dann erst kann danach gefragt werden, ob jene Ausdrücke, gemessen am westlichen Vorverständnis von Philosophie als Wissenschaft, überhaupt 'theoriefähig', d.h. innerhalb unseres westlichen Wissenschaftshorizontes immer noch in ihrer originären Bedeutung verwendbar sind.

Quellenangaben:

1Im letzteren Sinne verfährt z.B. der deutschsprachige wikipedia-Artikel zum Daoismus.

2Siehe Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Teil 1. Orientalische Philosophie (Kolleg 1825/26), S. 369; Hg. Walter Jaeschke, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1993.

3Klassische chinesische Philosophie. Eine Einführung, S. 134; Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a.M. 2009

4Siehe hierzu Benjamin Nelson, Der Ursprung der Moderne. Vergleichende Studien zum Zivilisationsprozeß; Verlag Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1986

5Hilfreich für einen ersten Überblick über die chinesische Philosophiegeschichte ist das Buch Chinesische Philosphie. Eine Einführung von Lutz Geldsetzer und Han-ding Hong; Reclams Universal Bibliothek, Stuttgart 1998, 2008. Allerdings vertreten die Autoren in nahezu allen wesentlichen Fragen zum eigentlichen Daoismus einen anderen Standpunkt als wir. 

-d.b.-

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